Freiheit, Freude, Miteinander, Freundschaft: dies sind nur wenige von vielen großen Wörtern, die wir mit dem Gelingen unseres Lebens unmittelbar in Verbindung bringen. Wir wollen die Freiheit in unserer Lebensgestaltung, wollen unabhängig sein und suchen in den scheinbar unendlichen Möglichkeiten, die sich uns in unserer Zeit bieten, das Richtige für uns zu finden und zu tun. Dabei gibt es auch jene, die dieser Gestaltungsspielraum überfordert, die angesichts dessen buchstäblich „über-fragt“ sind. Weiter gibt es jene, die sich scheuen, eine wirkliche und bindende Entscheidung für ihr Leben zu treffen aus der Angst, dann nur eine der vielen Möglichkeiten verwirklicht zu haben - und alles andere zu verpassen und dadurch im Leben zu kurz zu kommen. Wieder andere müssen schmerzlich erkennen, dass es eine unbegrenzte Freiheit in der Lebensgestaltung nicht gibt, dass dies eine Utopie ist, da wir uns immer auch in Zusammenhängen wiederfinden, die wir nicht geplant und nicht gemacht haben, die uns aber vor Aufgaben und Herausforderungen stellen, denen wir nicht entfliehen können.
Angesichts der Corona-Pandemie kann uns dies wieder sehr deutlich werden. Wir müssen nun schon über ein Jahr mit dem Virus leben, das unser Leben so verändert und eingeschränkt hat. Vieles hatten wir uns in den vergangenen Monaten seit Ausbruch der Seuche für unser öffentliches aber auch für unser ganz persönliches Leben anders vorgestellt. Wir hatten Pläne und Ideen, die wir dann nicht umsetzen konnten. Wir wollten miteinander das Leben teilen, wollten manchen Anlass gebührend feiern, wollten im einander Begegnen weiter vorankommen: Durch die Pandemie kam alles anders. Sie hat im Gegenteil viele Menschen vor ganz praktische Herausforderungen gestellt, was ihr Auskommen und Weiterkommen sehr konkret betrifft – weit entfernt von einer unbegrenzten Freiheit in der Lebensgestaltung. Und schließlich hat die Pandemie wieder deutlich gezeigt, dass Krankheit und Tod der menschlichen Freiheit offenbar eine endgültige und so schmerzliche Grenze setzen.
Die Corona-Zeit kann uns lehren, dass Freiheit im Sinne einer grenzenlosen Unabhängigkeit von allem, was mich binden oder einschränken kann, eine Perspektive ist, die an der Realität menschlicher Geschichte zerbricht. Dabei bleiben gerade in dieser Zeit große Worte wie „Freiheit“, „Freude“, „Miteinander“ und „Freundschaft“ echte Sehnsuchtsworte für das Leben. Freiheit gehört doch wesentlich zur Identität des Menschen. Wie passt das zusammen? Wird der Mensch sich angesichts der Brüchigkeit seiner Freiheit nicht zum tragischen Rätsel? Mancher vermag in den epochalen Umwälzungen unserer Zeit genau das erkennen, dass beim modernen Menschen eine zunehmende Identitätskrise um sich greift.
Das Osterfest schenkt uns hier eine andere und tragfähige Perspektive. In der Mitte des Festes steht der gekreuzigte und auferstandene Christus. Der Karfreitag öffnet uns immer wieder neu den Blick auf das Kreuz Jesu und lässt uns staunen: Jesus, angenagelt an das Holz des Kreuzes, ist scheinbar seiner ganzen Freiheit beraubt. Jetzt geht nichts mehr. Dabei bekennt der Glaube doch, dass es der menschgewordene Gott ist, der da am Kreuz hängt, in dem doch die ganze Allmacht Gottes anwesend ist, seine tatsächlich grenzenlose und schöpferische Freiheit. Wie passt das zusammen? Der, der alles kann, kann hier nichts mehr? Ist das Kreuz des Herrn ein tragisches Rätsel? Nein, im Gegenteil: Nicht tragisches Rätsel, sondern heilsames Geheimnis. Nur wenige Stunden vor dem Kreuzestod stellt Pontius Pilatus, der das Urteil über Jesus fällt, der Menge den bereits geschundenen Herrn mit den Worten vor: „Ecce homo“ – „Seht, der Mensch“. Was vordergründig die Vorführung eines Verurteilten ist, erweist sich als tiefes Wort: In diesem geschundenen Jesus erblicken wir den wahren Menschen. In ihm erkennen wir unsere wahre Identität und Bestimmung. Und ja: Diese Identität hat wesentlich mit unserer Freiheit zu tun. Im Hochgebet der hl. Messe beten wir: „Denn am Abend, an dem Er ausgeliefert wurde und sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf, nahm Er das Brot…und sprach:…Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Aus freiem Willen wäscht Jesus den Jüngern im Abendmahlssaal die Füße; aus Freiheit verrichtet er diesen Sklavendienst; aus Freiheit geht er den Leidensweg; aus Freiheit gibt er sein Leben am Kreuz hin. Der innerste Grund dieser Freiheit ist auch das innerste Geheimnis Gottes selbst: die Liebe. Liebe kann es nur geben, wo auch Freiheit ist. Denn Liebe ist die freie Entscheidung für das Gegenüber. Sie ist nicht die Vereinnahmung eines anderen für die eigene Lebensgestaltung, sondern im Gegenteil die selbstlose und bedingungslose Annahme des anderen um seiner selbst willen.
Von daher ist es einleuchtend, dass Jesus im Abendmahlssaal die Jünger über die Liebe belehrt, sie ihnen als Gebot mitgibt und sich mit beinahe beschwörenden Worten an sie richtet, wenn er sagt: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben! Dies trage ich euch auf: Liebt einander!“ Und der Herr macht den Jüngern auch klar, was dies in letzter Konsequenz bedeuten kann: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für die Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde…“ Wie wahr ist dieser Satz wenige Stunden später an Jesus selbst geworden. Mit dem Blick auf das Kreuz Jesu bekommen seine Worte aus dem Abendmahlssaal an die Jünger eine geradezu erschütternde Wucht. Und immer, wenn wir auf das Kreuz Jesu schauen, soll uns jene unbegreifliche Liebe stets aufs neue ergreifen, indem wir seine Stimme hören: „Ich habe euch Freunde genannt.“
Der Ostermorgen macht nun Entscheidendes offenbar: Der Herr ist wahrhaft auferstanden. Im auferstandenen Christus erkennen die Jünger: Diese Liebe ist stärker als der Tod. Jesus, der sich aus Freiheit und Liebe allen irdischen Begrenzungen bis zur Hingabe seiner selbst unterworfen hat, hat diese Grenzen alles Irdischen durch seinen Tod und seine Auferstehung aufgerissen und dadurch auch uns die Weite und Freiheit der Ewigkeit Gottes erschlossen. Der Kreuzestod Jesu, der vordergründig als vollkommener Freiheitsverlust betrachtet werden kann, erweist sich von Ostern her als souveräne Freiheitstat Gottes, als wahre Freiheit zur Liebe, die den Tod besiegt hat.
Das Kreuz Jesu hat nichts mehr zu tun mit persönlicher Lebensgestaltung oder mit dem, was wir Selbstverwirklichung nennen. Und doch ist grade das Kreuz Jesu ein Zeichen der Freiheit: der Freiheit vom Tod und der Freiheit zur Liebe. Schließlich ist es weiter ein Zeichen der Befreiung von der Sünde durch den, der mit dem Kreuz eben aus vergebender Liebe alles auf sich genommen hat.
Der christliche Glaube betrachtet Freiheit also nicht zuerst in der Unabhängigkeit von möglichst allen Vorgaben im Sinne grenzenloser Lebensgestaltung. Freiheit ist vielmehr eine Gabe Gottes, die uns die Fähigkeit gibt, selbstlos zu lieben. Ecce homo – Seht, das ist der Mensch: Genau darin erkennt der Christ die Identität des Menschen: In der Freiheit zur Liebe. Diese Freiheit zerbricht nicht an den Herausforderungen und Begrenzungen unseres Lebens oder an dem Kreuz, das uns zu tragen gegeben ist, sondern sie ereignet sich auch darin; sie wird schlussendlich nicht ausgelöscht durch den Tod, sondern findet heim in die Freiheit des ewigen Lebens. Mag diese Perspektive vielen Menschen unserer Tage auch fremd sein, so bleibt sie doch die tragende Antwort auf die immer drängendere Frage nach der grundsätzlichen Identität des Menschen.
Ostern befreit den Menschen zur Liebe. Angesichts des Ostergeheimnisses ist selbstlose Liebe nicht mehr riskante Verschwendung des eigenen Lebens verbunden mit der Angst, selbst zu kurz zu kommen, sondern Erfüllung und Vollzug der eigentlichen Identität unseres Menschseins, ja ein immer mehr heimisch werden in jener letzten Heimat, die uns durch die Auferstehung Jesu bei Gott bereitet ist: Denn Gott ist die Liebe.
So wünsche ich Ihnen von Herzen auch im Namen unseres Teams ein frohes und gesegnetes Osterfest. Bleiben Sie gesund und behütet.
Klaus Nebel, Pfarrer
Fotos: Philippe Jaeck und Christiane Raabe / Pfarrbriefservice.de