St. Bonifatius Wiesbaden

Zu Gast: Das Große Zittauer Fastentuch in St. Bonifatius

Gemeindebrief, Aus dem Leben der PfarreiPhilippe Jaeck

Lange Zeit war nicht sicher, ob das originalgroße Faksimile eines der ältesten Fastentücher Europas überhaupt würde nach Wiesbaden reisen können. Dienstreisen waren coronabedingt weder den Zittauern erlaubt noch uns.

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Bereits am 2. Februar 2020 bei der Vernissage der Ausstellung „Trotz aller Schwere“, die die Katholische Erwachsenenbildung Wiesbaden zusammen mit der Pfarrei St. Bonifatius anlässlich des 75. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs mit Kunstwerken von Claudia Merx in St. Mauritius zeigte, wurde die Idee geboren, die Kopie des Großen Zittauer Fastentuchs im darauffolgenden Jahr nach Wiesbaden zu holen und in St. Bonifatius zu zeigen. Zeitgleich sollte auch das Kleine, fast genau 100 Jahre jüngere Zittauer Fastentuch in der evangelischen Katharinenkirche in Frankfurt zu sehen sein. Noch ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand, wie die Pandemie unser Leben verändern würde, doch beide Projekte gelangen dennoch.

Würde Corona im Moment nicht alles überschatten, wäre das Thema des Augenfastens vielleicht so aktuell wie nie, sind wir doch tagtäglich in den unterschiedlichsten Formen und Formaten medialen Bilderfluten ausgesetzt.Doch auch jetzt, vielleicht auch gerade in dieser Zeit, benötigt der Mensch Unterbrechungen des Alltäglichen, auch seiner Sehgewohnheiten.

Die Fasten- oder Hungertücher, deren Gebrauch schon seit der ersten Jahrtausendwende in Europa belegt ist, veränderten die Kirchenräume in einschneidender Weise.

Raumbeherrschend verhüllten sie die Altarräume im Ganzen und damit auch das Messgeschehen am Altar. Das große Zittauer Tuch misst allein in der Höhe über acht Meter und in der Breite knapp sieben Meter, es spannt damit eine Bildfläche als Sichtbarriere von knapp 56 qm auf. Stellt man sich das Tuch im intakten ursprünglichen Zustand ohne die heute sichtbaren Verschleiß- und Alterungsspuren des Materials wie der Bemalung vor, wird seine abschirmende Wirkung noch offensichtlicher.

Dem nach der Eucharistie „schmachtenden“ Gläubigen wird der Blick auf das Allerheiligste verwehrt. Bedenkt man die im Mittelalter übliche Praxis der „Augenkommunion“ anstelle der Laienkommunion wird die Bedeutung dieses Verzichts noch spürbarer. Nicht ohne Grund wurden diese Velen nicht nur „Hungerdoek“, wie im Westfälischen, sondern auch „Kummertuch“ oder gar „Schmachtlappen“ genannt.

Von diesen Zeugnissen mittelalterlicher Frömmigkeitspraxis sind nur noch wenige erhalten geblieben, und das Große Zittauer Fastentuch zählt zu den ältesten und größten seiner Art überhaupt.

Bis ins 17. Jahrhundert verhüllte es jedes Jahr zwischen Aschermittwoch und Gründonnerstag den Altarraum der Zittauer Hauptkirche St. Johannis. Es überstand die Reformation unbeschadet und wurde danach noch 150 Jahre weiterverwendet, vermutlich nicht zuletzt wegen seiner 90 Bildkacheln, die die Heilsgeschichte vom Alten bis zum Neuen Testament in feinster Tüchleinmalerei schildern und die zur Katechese geradezu einluden.

Erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs erlitt das Tuch große Schäden. Soldaten der Roten Armee zerschnitten es und dichteten mit den Stücken eine provisorische Dampfsauna im Wald ab. Ein Holzsammler fand es nach dem Abzug der Soldaten völlig durchnässt und verdreckt in der Erde vergraben, barg die Teile, informierte den Ortspfarrer und brachte sie ins Museum nach Zittau.

Nach der Wende lag das Tuch in 17 Teilen zertrennt und in Zeitungspapier eingewickelt auf dem Fußboden einer als Depot genutzten Mönchszelle, ein wahres Puzzle, dessen sich die Abegg-Stiftung in der Nähe von Bern Mitte der 90er Jahre annahm. In Zittau wird das textile Kunstwerk heute in der größten Museumsvitrine der Welt präsentiert, in Wiesbaden ist nun bis Karsamstag die Kopie zu bewundern – nicht zuletzt dank dem unerschrockenen und tatkräftigen Einsatz von Johannes Hilse, Hans Günter Haase, Roland Büskens, Roland Marx und seiner Frau Stefanie, und den BufDis Carlos Hessel und Pascal Sliwa, die am Veilchendienstag das Tuch mit vereinten Kräften gehängt haben und zwar in gemeinsamer Regie über den Gewölbekappen wie unten im Chor.

Ein besonderer Gast in St. Bonifatius, der unseren gewohnten Blick unterbricht, verändert und erweitert.

Dr. Simone Husemann, Katholische Erwachsenenbildung

Im Internet finden sich einige Informationen darüber:

Seite des katholischen Bezirk Wiesbaden

Wikipedia

Video der Städtischen Museen Zittau

auf deutsch und englisch

Audioguide

Kurzer Film der Via Sacra