St. Bonifatius Wiesbaden

Sich erinnern, um der Nächstenliebe den Weg zu bahnen

Gemeindebrief, Theologie SpiritualitätPhilippe Jaeck

Das Leiden der Menschen im Nationalsozialismus und das perfekte Trugbild im Konzentrationslager Theresienstadt

Erinnern – das ist im Monat November das Stichwort. Deshalb feiern Katholiken an Allerheiligen ihre Heiligen. Daneben gedenken Christen ihrer Verstorbenen. In der katholischen Kirche tun wir dies an Allerseelen, in der evangelischen Kirche geschieht dies am Totensonntag. Ferner wird am Volkstrauertag an die Kriegstoten erinnert. Zudem blicken wir am 9. November 2018 zum 80. Mal auf die Schreckensereignisse der Reichspogromnacht. Dabei erinnern wir uns daran, dass in dieser Nacht 1400 Synagogen und Gebetsräume sowie weitere jüdische Versammlungsstätten in Deutschland gebrannt haben. Mehrere Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe sind zerstört worden. Dabei sind 400 Juden ermordet worden, oder sie wurden in den Suizid getrieben. In den folgenden Tagen wurden circa 30.000 Juden in Konzentrationslager deportiert.

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Mit der Reichspogromnacht hat sich die Diskriminierung von Juden in Deutschland zum Holocaust gewandelt. Hier sind ungefähr 6 Millionen europäische Juden umgekommen. Forscher des United States Holocaust Museums schätzten im Jahr 2013, dass es im Nationalsozialismus insgesamt zwischen 15 bis 20 Millionen Opfer gegeben hat, die unter dem NS-Regime gelitten haben. Viele davon wurden ermordet. Neben den Menschen jüdischen Glaubens sind ganz unterschiedliche Personengruppen verfolgt worden. Dazu haben Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, aus Jugoslawien, aus der ehemaligen Tschechoslowakei und aus Polen gehört. Ferner sind Sinti und Roma, Angehörige der katholischen Kirche, psychisch Kranke, Behinderte, Homosexuelle, Kommunisten, sowie Personen, die aus politischen oder religiösen Motiven Widerstand geleistet haben, verfolgt und getötet worden. Dies ist mit perfider Systematik an 42.500 Orten in Europa geschehen. Einer dieser Orte war das Konzentrationslager Theresienstadt, welches als Durchgangslager zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gedient hat. Dort, wie in allen Konzentrationslagern, mussten die Gefangenen Zwangsarbeit, Hunger, Folter und Mord erleiden.

Theresienstadt war darüber hinaus von seiner Anordnung und auch von seiner Funktion her besonders. Zunächst ist Theresienstadt in der Zeit von 1780 bis 1790 als eine Kleinstadt in Nordböhmen gebaut worden. Die Auftraggeberin und Namenspatronin war Kaiserin Maria Theresia. Die Kleinstadt sollte wegen der schlesischen Kriege als Festung dienen. Sie war durch eine rote Backsteinmauer geschützt, und es hat unterirdische Gänge gegeben. In der deutschen Kaiserzeit wurden Teile von Theresienstadt als Gefängnis genutzt. Diese Idee wurde von der SS übernommen. 150.000 Juden aus Deutschland, Österreich, Tschechien und anderen Ländern wurden hier gesammelt und weiter nach Auschwitz-Birkenau transportiert.

Um die Schrecken, die sich in den Konzentrationslagern zugetragen haben, zu verdecken und um der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, wie erfolgreich die Umsiedlung von Juden ist, wurde 1944 der Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ produziert. Schauplatz hierfür war das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort wurde eine „jüdische Mustersiedlung“ mit Schulen, mit einem Krankenhaus, mit Kaffeehäusern und eigener Selbstverwaltung sowie einem kulturellen Angebot gezeigt. Alles war allerdings nur inszeniert. Die Realität im Lager hat anders ausgesehen. Damit das Trugbild perfekt wurde, hat man eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes empfangen, um vorzuführen, wie gut es den Menschen in Theresienstadt geht. Man ließ für sie Kinder an reich gedeckten Tischen Platz nehmen, um zu zeigen, wie gut sie versorgt werden. Die Kinder mussten die Oper „Brundibár“ mitaufführen, die Hans Krásas komponierte. Fast alle, die sich an der Oper und an dem Propagandafilm beteiligen mussten, wurden ein paar Tage später in Auschwitz-Birkenau umgebracht.

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Edith Erbrich hat das Martyrium in Theresienstadt überlebt. Die gebürtige Frankfurterin ist als Tochter einer Katholikin und eines Juden am 14. Februar 1945 zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Vater nach Theresienstadt deportiert worden. Dort wurden sie voneinander getrennt. Edith Erbrich ist zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt. Die große Schwester musste arbeiten. Sie hat die ankommenden Viehwaggons reinigen müssen und die Toten herausgeschafft. Edith Erbrich, ihre Schwester und ihr Vater haben Glück gehabt, dass sie überlebt haben. Es war vorgesehen, dass die Familie am 9. Mai 1945 „vergast“ wird, doch die Gefangenen aus Theresienstadt wurden vorher befreit. Heute ist Frau Erbrich als Zeitzeugin aktiv und berichtet besonders Jugendlichen von ihrem Schicksal. Daneben hat sie an der Entstehung eines Musicals mitgewirkt. Es trägt den Titel „Die Kinder der toten Stadt“. In ihm wird von den Kindern aus Theresienstadt erzählt, die die Kinderoper „Brundibár“ aufführen mussten. Frau Erbrich sagt dazu, dies ist „ein großartiges Theaterstück“. Es ist wichtig, immer wieder daran zu erinnern. Dafür setzt sich Edith Erbrich mit sehr viel Energie ein, damit die schlimmen Ereignisse der NS-Zeit nicht vergessen werden.

Wenn wir uns im Monat November als Christen an unsere Verstorbenen erinnern, dann ist es ebenfalls wichtig, an die Opfer des Nationalsozialismus zu denken. Das gilt besonders für die „älteren Glaubensbrüder“ aus dem Judentum, weil die Christen mit ihnen durch „gemeinsame Wurzeln“, wie Papst Franziskus gesagt hat, verbunden sind. Gerade deshalb ist es für Christen sehr bedeutsam, die Vergangenheit in den Blick zu nehmen. Damit kann ein Beitrag geleistet werden, um radikalen und menschenfeindlichen Strömungen entgegenzutreten, die in der Zeit von 1933 bis 1945 zu unfassbarem Leid geführt haben.

Erinnern wir uns also, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Erinnern wir uns, um der Nächstenliebe den Weg zu bahnen.

Carola Müller, Gemeindereferentin
Foto: Piper_Adams / AdobeStock