St. Bonifatius Wiesbaden

Eine ehrliche und mutige Frau

GemeindebriefPhilippe Jaeck

Was ich heute von Maria lernen kann

Maria, die Mutter Jesu, gilt als Mutter und Vorbild aller Christen und wird in der katholischen Kirche im Monat Mai in ganz besonderer Weise verehrt und in den Mittelpunkt gestellt. In der kirchlichen Tradition begegnet sie uns in unzähligen Bildern, Darstellungen und Marienliedern als eine mütterliche Frau ohne jegliche Fehler und Tadel. Die Attribute von Reinheit, Unbeflecktheit, Unterwerfung und Ergebenheit, mit denen Maria häufig beschrieben wird, haben jedoch nur sehr wenig mit der realen Lebenswirklichkeit moderner Frauen von heute zu tun. Eine junge Mutter, die sich in einem ständigen Spagat zwischen Familien- und Berufsleben befindet oder eine Frau, die von ihrem Partner getrennt lebt und ihre Kinder alleine großzieht, können sich nur schwer mit einem solchen Frauenbild identifizieren. Auch Volksfrömmigkeit wie Rosenkranzandachten und das Anzünden von Kerzen vor einem Marienbild geraten immer mehr in Vergessenheit und sind den meisten Menschen heute fremd geworden. Ist Maria als Mutter und Vorbild aller Glaubenden also nur noch ein Auslaufmodell, das uns als modernen Menschen nichts mehr zu sagen hat? Oder müssten wir sie vielleicht nur aus dem viel zu eng gewordenen Korsett verkrusteter Traditionen befreien?

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Blicke ich in die Bibel, so finde ich dort ein Bild von Maria, mit dem ich mich als moderne Frau von heute deutlich besser identifizieren kann. Das Lukasevangelium (vgl. Lk 1,26-38) erzählt vom Menschen und von der Frau Maria. Hier treffe ich nicht auf eine stille, brave und sittsame Lichtgestalt, die auf einem goldenen Sockel steht, sondern ich treffe auf eine starke und mutige Frau, die mitten in ihrem Alltag mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht.

Maria hat in ihrem Leben mit Problemen und Herausforderungen zu kämpfen, die auch unsere sein könnten. Sie verliert angesichts einer ungewissen Zukunft nicht den Mut, sondern macht aus ihrer Situation immer wieder das Beste, zum Beispiel als sie plötzlich unverheiratet schwanger wird. Selbst als sie sich mit ihrem Mann kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes auf den langen und beschwerlichen Weg nach Bethlehem machen muss, sie ihr Baby in einem Stall zur Welt bringt, weil in den Herbergen kein Platz mehr ist, oder sie direkt nach der Geburt mit ihrer kleinen Familie nach Ägypten flüchtet, bleibt sie zuversichtlich und setzt ihr ganzes Vertrauen auf Gott.

Besonders beeindrucken mich zwei Eigenschaften von Maria, mit denen sie ebenfalls im Lukasevangelium beschrieben wird: ihre Beharrlichkeit, mit der sie bei der Verkündigungsszene Dinge offen und ehrlich hinterfragt sowie ihr Mut, in der Begegnung mit ihrer schwangeren Cousine Elisabeth im Magnificat Ungerechtigkeiten und Missstände klar zu benennen. Darin will ich sie mir unbedingt zum Vorbild nehmen!

In der Begegnung zwischen Maria und dem Erzengel Gabriel zeigt sich für mich auf sehr beeindruckende Art und Weise, dass die junge Frau zunächst ziemlich kritisch und zweifelnd fragt, wie das überhaupt geschehen soll, dass sie schwanger wird (vgl. Lk 1,34). Sie diskutiert mit dem Botschafter Gottes, benennt ehrlich ihre Fragen, Zweifel und Ängste. Erst nachdem sie ihre Bedenken zur Sprache gebracht hat, ist sie bereit zu einer klaren Entscheidung: „Ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe, wie Du gesagt hast“ (Lk 1,38).

Das macht mir Maria ungemein sympathisch. Eine solche Frau, die ehrlich und authentisch um Vertrauen ringt, in einen Prozess der aufrichtigen Auseinandersetzung geht und trotzdem immer wieder neu nach Wegen sucht, um sich für Gott und das Leben zu entscheiden, ist für mich ein wirkliches Vorbild im Glauben, eine Mutter aller Glaubenden. So kann ich als moderne Frau einen neuen Zugang zu Maria und ihrer Bedeutung für mein eigenes Leben finden. Die politische Frau, die bei der Begegnung mit Elisabeth das Magnifikat singt (vgl. Lk 1,46-55), ermutigt mich dazu, genauso klar und deutlich Unrecht und den Wunsch nach einer Umwälzung ungerechter Machtverhältnisse zu benennen.

Vielleicht kann die biblische Maria mit den zwei genannten Eigenschaften gläubigen Menschen von heute ein Vorbild und eine Wegweiserin für die vielen Herausforderungen und Veränderungsprozesse sein, in denen wir uns gerade in der Gesellschaft, aber auch als katholische Kirche befinden. Und vielleicht kann die biblische Maria ja auch eine Spur legen, wie sich in diesen Veränderungen die Rolle von Frauen in unserer Kirche verändern kann.

Stephanie Hanich, Pastoralreferentin
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