St. Bonifatius Wiesbaden

Alles hat seine Zeit?

GemeindebriefPhilippe Jaeck

Im Buch Kohelet heißt es:

Alles hat seine Zeit. Für jedes Geschehen unterm Himmel gibt es eine bestimmte Zeit, … eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, … eine Zeit zum Weinen, eine Zeit zum Lachen, … eine Zeit für die Klage, …. eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen …

Alles hat seine Zeit? Mehrfach bin ich in den letzten Wochen auf die Werbung des neuen James Bond Films gestoßen: Keine Zeit zu sterben. Auch wenn der Titel des Films anderes meint, so trifft er die Situation vieler Menschen, die Abschied nehmen müssen. Die Pandemie beschneidet massiv wichtige Formen des Abschieds. Corona verändert unsere Trauer-, Abschieds- und Bestattungskultur.

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Es ist wahr, der Vater war schon sehr alt – 91 Jahre. Er hatte ein erfülltes Leben und in den letzten Jahren wurde er zunehmend schwächer, verlor die Freude am Leben. Ja – es war Zeit zu gehen, Zeit zu sterben, Zeit, die Umarmung zu lösen. Aber als sich seine Situation Ende März verschlimmert, sitzen der Sohn und die Schwiegertochter mit den beiden Kindern im Ausland fest. Sie können nicht zu ihm. Sie können nicht an seinem Bett sitzen und ihm die Hand halten, ihm einen Kuss geben, ihn anlächeln oder mit ihm weinen. Sie probieren es über Skype, aber der Vater kann kaum folgen. „Wo seid ihr?“ fragt er. Eigentlich will er sagen „Warum seid Ihr nicht hier?“. Es ist trotz aller Erklärungsversuche für ihn nicht nachvollziehbar, warum sie nicht zu ihm ins Krankenhaus kommen. Viel schlimmer als sein Sterben ist diese Distanz. Sie können nicht Abschied nehmen. Wenn sie könnten, würden sie Tag und Nacht bei ihm am Bett sitzen – abwechselnd mit den Enkeln. Er soll nicht alleine sterben – er darf nicht alleine sterben. Die Situation ist unerträglich.

Er wird regelmäßig von einer Krankenhausseelsorgerin besucht. Sie ist freundlich. Ihre Besuche tun gut. Manchmal sitzen beide nur da und weinen. Sie spürt, wie schmerzlich die Situation für ihn und seine Familie ist. Es ist gut, dass sie da ist, aber sie kann die Familie nicht ersetzen. Er sehnt sich nach den Gesichtern der Enkel, dem festen Händedruck des Sohnes und der liebevollen Umarmung der Schwiegertochter. Aber sie sind nicht da – sie sind unendlich weit weg.

Keine Zeit Abschied zu nehmen – keine Zeit in Frieden zu sterben.

Sie starb viel zu früh. Mit 58 Jahren stand sie noch mitten im Leben. Sie hatte eine große Familie und einen großen Freundeskreis. Da sie schon längere Zeit schwer krank war, hatte sie mit der Familie schon über den Abschied und die Trauerfeier gesprochen. Alle sollen kommen. Es wären wohl zwischen 80 und 100 Menschen gewesen. Hinterher wollte man noch mit allen zusammenkommen und von den vielen gemeinsamen Erlebnissen erzählen. „Macht ein großes Fest! Feiert mein Leben! Feiert unsere gemeinsame Zeit!“ Und das hat sie auch so gemeint.

Aufgrund von Corona dürfen jetzt nur 12  Personen in die Trauerhalle. Das reicht nicht einmal für den engsten Familienkreis. Wer darf kommen? Wer darf Abschied nehmen? Wen müssen wir „ausladen“? Kein gemeinsamer Abschied, kein Zusammensein, kein sich gegenseitig in den Arm nehmen – nicht mal eine Kondolenz mit Handschlag. Es ist unerträglich.

Keine Zeit Abschied zu nehmen – keine Zeit zu sterben.

So oder ähnlich haben es unzählige Familien in den letzten Monaten erlebt. Gedanken bohren sich in unser Herz: wenn ich nur noch einmal zu ihm/ihr könnte, nur 5 Minuten. Nur wenigsten noch einmal in den Arm nehmen, seine/ihre Hand halten. Und nicht selten plagt uns das schlechte Gewissen: Hätte ich das geahnt, ich hätte mir vorher mehr Zeit genommen.

Und so führt uns die Pandemie vor Augen, was in unserem Leben wirklich von Bedeutung ist: Nähe, Berührung, Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Sich Zeit für andere zu nehmen – und wenn es nur ein kurzer Anruf, eine SMS, eine WhatsApp-Nachricht oder Postkarte ist. Das Signal: ich habe Dich nicht vergessen. Das Signal: ich bin bei Dir – ich lasse Dich nicht allein.

In der Kranken- und Altenheimseelsorge wurden wir durch die Situation massiv ausgebremst. Keine Krankenkommunion, keine Besuche, keine Gespräche, keine Gottesdienste. Für alle Beteiligten war und ist es eine schwierige Zeit. Menschen fühlen sich alleingelassen. Für manche Bewohner sind Besuchsverbote und andere Auflagen geistig nicht mehr nachzuvollziehen. Wie sehr eine solche Situation diese Menschen belastet, können wir nur erahnen. Heimleitungen wurden während des Lockdowns mit Klagen gedroht, weil man seine Angehörigen nicht besuchen dürfe. Als erste Fälle von Corona auftraten, wurden Pflegekräfte als Mörder beschimpft. Die notwendigen Hygieneauflagen kosten viel Zeit, die sonst für Pflege und Beschäftigung zur Verfügung stehen. Mitarbeiter mit Erkältungssymptomen müssen sicherheitshalber in Quarantäne. Die Personaldecke wird noch dünner, als sie sowieso schon ist. Dazu kommt die latente Anspannung, dass sich hoffentlich weder Personal noch Mitarbeiter irgendwo infizieren. Trotz der hohen Belastungen habe ich Heimleitungen, Sozialdienste und Pflegekräfte höchst motiviert und engagiert erlebt, aus der gegebenen Situation das Beste zu machen. Es ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen, was hier wirklich geleistet wird. Gesellschaft muss umdenken und diese schwere Arbeit angemessen (auch finanziell) würdigen! Und allen, die sich immer noch Sorgen machen, dass es in Deutschland zu viele „Ausländer“ gibt, denen sei gesagt, dass der mit Abstand größte Teil des Pflegepersonals Menschen mit Migrationshintergrund sind. Ohne diese Menschen würde unser ganzes Pflegesystem zusammenbrechen. Gut, dass sie da sind!

Von seelsorglicher Seite her haben wir versucht, diese Zeit mit Telefonaten und „Sonntagsbriefen“ aufzufangen. Bis in den Sommer hinein verschickten wir wöchentlich Briefe zum Sonntagsevangelium mit Impulsen und Gebeten an unsere Gemeindemitglieder in den Heimen und an die uns bekannten Kranken der Pfarrei. Gott sei Dank konnten wir im Laufe des Sommers wieder Gottesdienste anbieten. Bei einigen Heimen setzten sich die Menschen an ihre Fenster und der Gottesdienst fand draußen statt. In anderen wurden die Menschen im Garten oder in gut belüfteten Räumen versammelt. Gemeinsam mit den Heimen suchten wir gute, auf das jeweilige Heim abgestimmte, Lösungen. Und wir durften erleben, wie sehr unsere Gottesdienste und Seelsorge auch bei den Heimleitungen, Personal und Bewohnern geschätzt werden.

„Nach Corona ist nichts mehr, wie es war“ hörte man öfters zu Beginn der Pandemie. Ob diese schwierige Zeit uns wirklich langfristig zu einem Umdenken bewegt? Ich weiß es nicht. Letztendlich liegt es an jedem einzelnen von uns, aus dieser Situation zu lernen, umzudenken und für unser Leben andere Werte zu erkennen.

Wenn uns das gelingt, bietet diese Krise auch die Chance auf eine neue Zeit. Alles hat seine Zeit! Nutzen wir sie!

Andreas Schuh, Gemeindereferent
Foto: Marylène Brito/ Pfarrbriefservice.de