Dem Himmel so nah… – Teil Drei
Unter diesem Titel hatte ich eine dreiteilige Reihe zu Heiligen im Sinn, die in Krisenzeiten der Kirche heilsam wirkten und zu denen ich persönlich eine besondere Beziehung habe. Geplant war ein „Erzählcafé“. Auf der Dachterrasse des RoncalliHauses wollte ich jeweils über eine der Gestalten erzählen und mit den Teilnehmer*innen ins Gespräch kommen. Die Corona-Pandemie hat uns da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Doch so einfach ausfallen lassen möchte ich die Sache dann doch nicht. Statt Erzählcafé gibt es nun jeweils einen Artikel hier im Gemeindebrief und begleitend ein Video. Im (vorerst) letzten Teil möchte ich Sie mit dem Heiligen Paul VI. (wieder) bekannt machen. Im Video komme ich mit Pastoralreferent Stefan Herok über den Papst unserer Jugend ins Gespräch.
Wenn Sie an die Päpste der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denken ...
Klar, da ist Johannes Paul II., der allein schon mit der Länge seines Pontifikats beeindruckt, mit seiner Rolle beim Zusammenbruch des Sowjetsystems in Osteuropa, seinen Reisen, den spektakulären Besuchen in Synagogen und Moscheen, die Weltjugendtagen und, und, und.
Natürlich ist da der „Papa buono“, der „Gute Papst“ Johannes XXIII.! Seine große Menschlichkeit, die weit über die Grenzen der Kirche beeindruckte. Die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils, sein „aggiornamento“, der „Verheutigung“ für die Kirche.Ja, und der lächelnde 33-Tage-Papst, Johannes Paul I. Dessen plötzlicher Tod und der Umgang des Vatikans damit bot Verschwörungstheoretikern wunderbar Nahrung...
Eher traditionell Denkende trauern der „Pianischen Zeit“ und ihrem letzten Vertreter Pius XII. nach.
Aber: da war doch noch einer ...
Klar, da war doch noch „Pillen-Paul“!
Vergessen und verkannt
Es ist tragisch, dass die Erinnerung an diesen großen Papst, nur von dieser einzelnen, in der Gesamtheit seines Werkes betrachtet, eigentlich nebensächliche Angelegenheit, bestimmt ist. Vielleicht ist es es auch „Pech“, dass Paul VI. im Schatten zweier charismatischer Päpste, Johannes und Johannes Paul (Vorgänger und faktisch Nachfolger) steht. Beide haben mit ihrer Ausstrahlung und ihrem öffentlichen Auftreten gerade die Herzen berührt. Paul, mit seiner scheuen Art, war eher ein Papst des Denkens, weniger des Fühlens.
Im Video, im Gespräch mit Stefan Herok, werde ich ausführlicher über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Päpste sprechen. Gerade im deutschsprachigen Bereich scheint Paul VI. geradezu einer „damnatio memoriae“ einer Verdammung der Erinnerung unterworfen.
Dem möchte ich hier ausdrücklich entgegentreten!
Von Brescia nach Rom
Unser späterer Papst Paul VI. wird 1878 als einer von drei Brüdern im Sommerhaus der Familie Montini in Concesio, außerhalb von Brescia geboren. Er bekommt den Namen Giovanni Battista (Johannes der Täufer). Er wächst in dieser angesehenen gutbürgerlichen Familie in Brescia auf. Der Vater ist Rechtsanwalt, Verleger einer katholischen Zeitung und Politiker der „Partito Popular“ (Vorläufer der Christdemokraten). Es ist ein intellektuelles Umfeld, das Giovanni Battista prägt. Die Mutter bringt ihn mit der französischen Literatur und Philosophie in Kontakt. Eine besondere geistliche Prägung bekommt er im Umfeld des Marienheiligtums ‘Santa Maria delle Grazie’ (Hl. Maria der Gnade) und durch das „Oratorium des Hl. Philipp Neri“ in seiner Heimatstadt. So reift in dem jungen Mann der Entschluss zum Priestertum. Wegen seiner schwachen gesundheitlichen Konstitution kann er sein Studium extern, also nicht kaserniert im Seminar, durchführen. Wohl aufgrund familiären Einflusses setzt er seine Ausbildung an der Päpstlichen Diplomatenakademie fort. Seit 1922 arbeitet er im Päpstlichen Staatssekretariat im Vatikan, daneben auch einige Jahre als General Assistent der Katholischen Studentenvereinigung. Nach dem Tod seines Staatssekretärs besetzt Pius XII. diesen Posten nicht mehr, sondern beruft Montini zu einem der beiden Substituten im Staatssekretariat. Er ist für die inneren Angelegenheiten der Kirche zuständig, sein Kollege Tardini für die äußeren, also die Kirchenpolitik. Er steht quasi innerhalb der Kurie in der zweiten Reihe hinter dem Papst.
Das Zwischenspiel in Mailand
1954 bekommt die Biografie Montinis eine plötzliche Wende. Pius XII. schickt ihn als Erzbischof ins größte Bistum, nach Mailand. Bis heute wird spekuliert, ob Pius ihm nicht mehr vertraute und ihn quasi “entsorgt” hat, oder aber, dass der Papst Montini die nötige pastorale Erfahrung verschaffen wollte. Letzteres ist vollauf gelungen. Der „Apparatschik“ erweist sich als großer Seelsorger seines Bistums! Sein Augenmerk gilt besonders den Arbeitervorstädten Mailands, die nach dem Krieg aus dem Boden sprießen. Er lässt, teilweise auf eigene Kosten, neue Kirchen bauen, besucht Fabriken, feiert dort mit den Arbeitern Messen. Oft genug ist er in der Stadt mit der Straßenbahn unterwegs, (also nichts Exklusives von Papst Franziskus!). Er ist nah bei den Menschen. Dann ernennt der Nachfolger von Pius XII., Johannes XXIII., ihn endlich zum Kardinal.
Das Konzil
Ein vom Geist gewirkter Entschluss von Johannes XXIII.: er beruft ein ökumenisches Konzil ein. Montini ist von Anfang an beteiligt. Er ist aktiv in der Vorbereitung engagiert.
Und es kommt der Tag...
Am 11. Oktober 1962 eröffnet Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil. Montini zieht mit den anderen Konzilsvätern in feierlicher Prozession in die Konzilsaula (Petersdom). Ich habe diesen Augenblick per Fernsehen live erlebt. Ich wurde an meinem sechsten Geburtstag von meiner Mutter geweckt: „Du hast heute Geburtstag, aber heute ist ein ganz besonderer Tag!“ und wurde von ihr vor den Fernseher gesetzt. Mir war es als Sechsjährigem nicht bewusst, doch es ist für mich dasselbe, wie bei der Mondlandung live dabei gewesen zu sein! Diese habe ich verschlafen, Montini war bei beiden Ereignissen dabei!
Viel Hoffnung und Aufbruchstimmung, doch schon nach der ersten Sitzungsperiode stand das Konzil auf der Kippe, nicht nur durch den frühen Tod von Johannes. Es gab große Mängel in der Struktur der Debatten.
Habemus Papam
Am 21. Juni 1964 verkündet Kardinal Ottaviani von der Loggia des Petersdoms:
„Annuntio vobis gaudium magnum: Habemus Papam!
Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum,
Dominum Johannem Baptistam Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Montini
qui sibi nomen imposuit Paulum sextum.“
(„Ich verkünde euch große Freude: Wir haben einen Papst! Den herausragendsten und hochwürdigsten Herrn, Herrn Giovanni Battista der Heiligen Römischen Kirche Kardinal, Montini welcher sich den Namen Paul VI. gegeben hat.“)
War Montini schon nach dem Tod Pius XII., obwohl noch nicht Kardinal, als „papabile“, als Favorit, angesehen, so wird er jetzt bereits im fünften Wahlgang gewählt. Wohl weil man ihm zutraute, das Konzil weiter und zu einem guten Ziel zu führen. Diese Hoffnung hat er dann auch erfüllt. Mit kluger Hilfestellung im Hintergrund hat er den Fortgang des Konzils begleitet und so zum erfolgreichen Abschluss geführt. Er widmet danach sein ganzes Pontifikat dem Ziel, die Beschlüsse des Konzils umzusetzen. Dies tut er konsequent, aber immer darum bemüht, dass die Kirche dabei nicht zerrissen wird. Er leidet unter der Abspaltung der Anhänger des Bischofs Lefebvres (Piusbruderschaft). Auf der anderen Seite scheint er den Reformorientierten fälschlich zu zögerlich.
Der Reisepapst
Schon während des Konzils ein erster Paukenschlag! Er reist ins Heilige Land und dort kommt es zu der historischen Umarmung mit dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras! Dies ist der Auftakt einer bis dahin unbekannten Reisetätigkeit. Er besucht im Laufe seines Pontifikats jeden Erdteil. Er spricht als erster Papst vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, er eröffnet die zweite Versammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín, er besucht den Weltkirchenrat in Genf, spricht vor der Welternährungskonferenz...
Die Tiara
Paul VI. setzt auch Schlag auf Schlag neue Akzente im Auftreten. Er wird noch ganz traditionell, mit allem Pomp (Fächer mit den Straußenfedern, Baldachin, Sedia Gestatoria (Tragsessel), begleitet von der Nobelgarde, die aus Adligen besteht, überbordenden Gewändern, die er nur mit Hilfe tragen kann ...) mit der Papstkrone, der Tiara, gekrönt. Diese für ihn modern gestaltete Tiara wurde von den Gläubigen des Erzbistums Mailand gestiftet. Doch bald legt er feierlich die Tiara ab und lässt sie zugunsten der Armen verkaufen. Seit diesem Schritt wurde kein Papst mehr gekrönt! Nach und nach werden die Gewänder schlichter, die großen Fächer und der Baldachin werden eingemottet, die Nobelgarde abgeschafft. Als Zeichen benutzt er nun eine „Ferula“, einen Kreuzstab. Er lässt ihn von einem modernen Künstler gestalten. Dieser Stab wird dann später geradezu zum Markenzeichen von Johannes Paul II.! Überhaupt ist der Papst ein Freund der modernen Kunst. Die entsprechende Abteilung in den Vatikanischen Museen und die Audienzhalle, vom damaligen Stararchitekten Luigi Nervi entworfen, gehen auf ihn zurück.
Liturgiereform
Mit seinem Messbuch führt Paul VI. den vom Konzil angestoßenen Weg zu einer Reform der Liturgie zu einem Ziel. Diese Reform wird wohl für die Gläubigen zur einschneidenden Veränderung nach dem Konzil. Was ihn für die Traditionalisten zum Feindbild werden lässt.
Nicht nur „Humanae Vitae“
Natürlich können wir bei einer Betrachtung des Wirkens von Paul VI. daran nicht vorbeigehen. Eigentlich ist es tragisch, dass, egal ob man die Entscheidung bedauert oder bejubelt, nur auf ein Detail dieser Enzyklika geschaut wird: die Ablehnung „künstlicher“ Empfängnisverhütung, und dann noch reduziert auf ein Verbot der „Pille“. Dabei lohnt es sich, diesen großartigen Text über die Liebe zwischen Mann und Frau und der Liebe Gotte zu uns Menschen zu lesen. Auch ist „Humanae Vita“ nicht das einzige Schreiben Pauls.
Da ist seine Antrittsenzyklika „Ecclesiam suam“, in der er den notwendigen Dialog der Kirche mit der Welt ausfaltet. Eigentlich gerade heute höchst aktuell: Synodaler Weg. Mit „Populorum Progressio“ erweitert er den Blick der katholischen Soziallehre von den klassischen Themen Kapital und Arbeit, hin zur Thematik der weltweiten Ungerechtigkeit, Unterdrückung, strukturellen Gewalt.
Mit „Evangelii nuntiandi“ gibt er wesentliche Hinweise zur Evangelisation. Auch ein zu unrecht vergessener Text.
Das Heilige Jahr 1975
Am Heiligen Abend 1974 eröffnet ein müde gewordener Papst Paul, geschwächt von immer stärkerem Widerstand von den beiden Flügeln: Traditionalisten und Reformer, vom Alter und den Schmerzen der Arthrose gequält, das reguläre „Heilige Jahr“. Dieses Heilige Jahr zeigt noch einmal die Größe des Papstes. Er bietet seine letzten Kräfte auf und ist in voller Präsenz bei den Veranstaltungen und den Katechesen der Audienzen dabei.
Die Aufbietung aller Kräfte zeigt sich exemplarisch bei der Öffnung der Heiligen Pforte. Im Prozess der Öffnung fallen Stuckteile herunter und treffen Paul VI. an der Schulter. Er vollzieht die Zeremonie und die anschließende Christmette unter großen Schmerzen, ohne es sich anmerken zu lassen. Der Künstler, der seine Ferula entworfen hatte, gestaltet auch sein Denkmal im Dom von Brescia mit der Szene des knienden Papstes auf der Schwelle der Porta Santa. Er konnte kein besseres Bild wählen, um uns diesen großen (für mich größten) Papst des 20. Jhdt. zu zeigen: Ein Mann, der gebeugt von der Last der Verantwortung für die Kirche seine Kraft im Kreuz findet!
Selbst im Tod
Paul VI. war ein zutiefst bescheidener Mensch, der immer wieder versuchte, als Person demütig hinter sein Amt zurückzutreten. Selbst im Tod setzt er Zeichen dieser Demut. Er verfügt, dass sein Leichnam nicht, wie üblich, in einem verschweißten Bleisarg, sondern direkt in einen schlichten Holzsarg gebettet, in der Erde bestattet wird. Auch nach der Selig- und Heiligsprechung befindet sich sein Grab weiter im Boden der Grotten des Petersdomes und nicht in einem erhöhten Grabdenkmal.
Ein Papst, zu Unrecht im Schatten, ein Papst, dessen Impulse wir gerade in unserer Zeit, in unserer Kirche, wieder entdecken sollten:
Giovanni Battista Montini, Papst Paul VI.!
Pfarrer Matthias Ohlig
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Fotos: Vatikan / Public Domain, Pfarrer Matthias Ohlig