St. Bonifatius Wiesbaden

Engel

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GemeindebriefAutor

Unendlich viel mehr als ein niedliches Accessoire

Engel erfreuen sich in der Gesellschaft immer wieder großer Beliebtheit. Niedliche Figürchen aus Keramik, Stoff oder Plastik, ganz in Weiß mit gefiederten oder goldenen Flügeln, oft in Form kleiner lockiger Mädchen mit verklärtem Lächeln – so blicken sie uns von allen möglichen Wohnzimmerecken, Schaufensterscheiben und Plakatwänden an. In Literatur, Musik und Kunst sind sie nicht nur in vergangenen, sondern auch in gegenwärtigen Zeiten vertreten. Der Glaube an einen persönlichen Schutzengel ist weit verbreitet. Der katholische Theologe Thomas Ruster vermutet hinter dieser oft recht verkitschten und sehr subjektiv gefärbten Engel-Welt eine Gegenbewegung gegen das Erleben unseres oft so nüchternen und von sozialer Kälte geprägten Alltags. In einer Umwelt, in der nur akzeptiert wird, was sinnlich wahrnehmbar und beweisbar ist, drückt sich auf diese Weise eine Sehnsucht nach dem Überirdischen aus. Und in einer Gesellschaft, in der Menschen nicht zählen und isoliert dastehen, die aus irgendeinem Grund nicht zu 100% leistungsfähig sind, sei es, dass sie krank sind, in Trauer, zarter besaitet als andere oder einfach irgendwie anders, wächst die Sehnsucht nach irgendwelchen Wesen, die all das an Geborgenheit und Sentimentalität vermitteln, was sonst zu kurz kommt.

Eine immer stärker rationalistisch verstandene Theologie hat die Engel lange Zeit eher in den Hintergrund gedrängt, obwohl die Vorstellung von den Engeln durchaus biblische Wurzeln hat und auch im katholischen Festkalender wiederkehrt. In dieser Zeit des Jahres feiern wir gleich zwei Engel-Gedenktage: am 29. September das Fest der heiligen Erzengel Michael, Gabriel und Rafael und am 2. Oktober den Gedenktag der heiligen Schutzengel. Gerade der zweite geriet immer mehr in den Hintergrund, obwohl dieser Gedanke vielleicht noch am ehesten in der Gesellschaft gepflegten Vorstellungen entgegenkommt. Wohl eine der bekanntesten Engel-Stellen in der Heiligen Schrift findet sich in Psalm 91: „Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Und im Matthäus-Evangelium sagt Jesus, dass die Engel der Kinder im Himmel immer das Angesicht seines himmlischen Vaters schauen (Mt 18,10). Und schließlich ist da im Buch Tobit der Erzengel Rafael, der als Wegbegleiter und Beschützer auftritt und mehrere hoffnungslos erscheinende Situationen zum Guten wendet. Als Weggeleiter dienen die Engel nach dem biblischen Zeugnis nicht nur innerhalb des irdischen Lebens, sondern auch im Übergang vom Tod zum ewigen Leben. Bei Lukas (Lk 16,22) heißt es: „Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.“ Diesen Gedanken nimmt die Beerdigungsliturgie auf in dem Gesang „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten...“.

Darstellung des Erzengels Michael.
Plakette an der Michaelskirche. Foto: B. Dahlhoff

Doch wirklich niedlich und sentimental sind die biblischen Engelfiguren ganz und gar nicht. Sie entsprechen einem menschlichen Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit, ja, aber der Schutz, den sie bieten, ist hart erkämpft. Der Erzengel Michael ist dargestellt als ein Kämpfer (auf Bildern meist mit Schwert und Rüstung), der den Satan in Gestalt eines Drachen in den Abgrund stürzt (Offb 12,7). Auch im Alten Testament treten immer wieder bewaffnete Engel auf, das erste Mal die Cherubim mit loderndem Flammenschwert (Gen 3,24), die das Paradies bewachen. Dem Seher Bileam erscheint ein Engel des Herrn mit gezücktem Schwert in der Hand (Num 22,31), der sich ihm in den Weg stellt, da er im Begriff ist, gegen Gottes Willen zu weissagen. An dieser Stelle wird das zentrale Merkmal der Engel deutlich: Sie tauchen nicht einfach so auf, um Menschen vor Gefahr zu bewahren, damit diese sich wohlfühlen. Sie haben vielmehr immer einen Auftrag von Gott. Ein Engel, griechisch aggelos, Gesandter, wird auf die Erde geschickt, damit Gottes Wille geschehe. Der Erzengel Gabriel, der zu Maria gesandt wird, überbringt ihr Gottes Auftrag, Jesus zur Welt zu bringen (Lk 1,26-38). Josef erscheint zweimal ein Engel im Traum, der ihm aufträgt, die schwangere Maria zu sich zu nehmen (Mt 1,20-24) bzw. mit seiner kleinen Familie in Ägypten Schutz zu suchen (Mt 2,13). Immer geht es um Gottes Willen für die Menschen, und wo diese sich dagegenstellen, wendet sich die Kampfkraft des Engels auch gegen die Menschen, um sie vor falschen Entscheidungen zu bewahren – wie etwa bei Bileam.

Dass die Engel immer auf Gott verweisen, zeigt sich schon in den Namen der drei Erzengel, der einzigen, die in der Bibel namentlich erwähnt sind: Michael, Gabriel und Rafael. Die beiden letzten Buchstaben im Namen der drei Erzengel „el“ bedeuten im Hebräischen „Gott“. Gabriel heißt „Gott ist Kraft“, Michael „Wer ist wie Gott?“ und Rafael „Gott heilt“. In den Engeln werden Eigenschaften Gottes deutlich, ihm dienen sie (vgl. auch Mt 4,11, wo Engel nach der Versuchung in der Wüste Jesus dienen). Selber dürfen sie nicht angebetet werden. Wo der Seher Johannes im letzten Buch der Bibel einem Engel anbetend zu Füßen fällt, bekommt er zu hören: „Tu das nicht! Ich bin ein Knecht wie du und deine Brüder, die das Zeugnis Jesu festhalten.“ (Offb 19,10).

Dennoch sind die Grenzen zwischen Engeln und Gottes Gegenwart an verschiedenen Stellen der Heiligen Schrift fließend. Gott selbst sagt von sich gegenüber Mose: „Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20). Im Buch der Richter überträgt ein Mann namens Manoach diese Furcht auf einen Engel des Herrn: „Da erkannte Manoach, dass es der Engel des Herrn gewesen war, und sagte zu seiner Frau: Sicher müssen wir sterben, weil wir Gott gesehen haben“ (Ri 13,21f.). Ähnliches passiert beim Krieger Gideon. Auch er bekommt es mit der Angst zu tun, als ihm klar wird, dass er einen Engel des Herrn von Angesicht gesehen hat (Ri 6,22). Und wenn man den Text aufmerksam liest, fällt auf, dass meist vom „Engel des Herrn“ die Rede ist, an einer Stelle heißt es aber plötzlich: „Da wandte sich der Herr ihm zu und sagte…“ (Ri 6,14). Der Engel verkörpert so sehr den Willen Gottes, dass dieser in ihm selbst zu Wort kommt. Noch verwirrender ist die Schilderung der Situation in Gen 18, der berühmten Geschichte von Abraham, der bei den Eichen von Mamre unverhofft Besuch von drei Männern bekommt, die ihm wiederum Pläne Gottes mitteilen. An mehreren Stellen ist von ihnen in der Mehrzahl, eben von drei Männern, die Rede, in anderen Sätzen heißt es plötzlich, dass der Herr selbst mit Abraham rede. Schon die neutestamentliche Tradition macht aus den drei Männern drei Engel (Hebr 13,12). Die christliche Theologie deutet die Geschichte so, dass in den drei Männern oder Engeln der dreifaltige Gott selbst vor Abraham erscheint.

Auffällig ist, dass das Aussehen der Engel in der Bibel keineswegs festgelegt ist auf weißgekleidete geflügelte und lockige Wesen. Weiße Kleidung wird an einzelnen Stellen erwähnt (etwa bei den Auferstehungsengeln am leeren Grab Jesu) und auch Flügel in alttestamentlichen Engel-Visionen. Doch oft tauchen die Engel einfach in Gestalt eines Menschen auf und sind gar nicht gleich als solche zu erkennen. Der Hebräerbrief ruft daher (im Bezug auf die Abrahamserzählung) dazu auf: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt“ (Hebr 13,2). Ein jüdisches Sprichwort sagt: „Einen Engel erkennst du erst, wenn er vorbeigegangen ist.“ Was den Engel wieder ganz in die Nähe Gottes rückt, denn im Buch Exodus sagt er zu Mose: „Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen“ (Ex 33,22). Eine jüdische Übertragung des Alten Testaments übersetzt statt „meinen Rücken“ „mein Danach“…

Die Bibel zeigt uns also, dass Engel unendlich viel mehr sind als ein niedliches Accessoire, das irgendwie eine diffuse Sehnsucht nach Schutz und Sentiment ausdrückt. Biblische Erzählungen von Engeln (von denen es deutlich mehr als 200 gibt) können uns wieder neu die inneren Augen dafür öffnen, dass Gott uns Menschen immer wieder seine Boten sendet, um uns zu behüten und zu bewahren vor allem, was uns von Gott entfernt. Manchmal wenden sich diese Boten auch scheinbar gegen uns; doch letztlich wollen sie uns zeigen, dass Gott es immer gut mit uns meint, auch da, wo uns im Moment andere Ziele erstrebenswerter erscheinen. Blicke ich einmal aus dieser Perspektive auf mein Leben zurück, kann ich vielleicht einige Situationen erkennen, an denen es so war. Ob ich auf die gesandten Engel höre oder nicht, liegt in meiner eigenen Entscheidung. Und auch, ob ich sie überhaupt als das wahrnehme, was sie sind, auch wenn sie in unscheinbarer Menschengestalt daherkommen. Letztlich kann jeder Mensch für einen anderen zum Engel, zu einem Boten Gottes werden, bewusst oder unbewusst. Anselm Grün schreibt: „Nach dem heiligen Augustinus ist Engel eine Bezeichnung für eine Aufgabe, nicht für ein Wesen. Der Engel ist der Bote Gottes, durch den Gott dem Menschen eine Botschaft sendet oder ihn begleitet und etwas in ihm bewirkt. Der Engel kann in einem Menschen zu uns kommen, im Traum oder in unserer Seele. Der Ort, an dem Engel erfahren werden können, ist das menschliche Herz.“

Pastoralreferentin Anna Maria Niem