St. Bonifatius Wiesbaden

Vom Glück der geteilten Zeit

Philippe Jaeck

Die Zeit – über kaum etwas wird wahrscheinlich so viel geschrieben und geredet, wie über die Zeit. Wer kennt das nicht, wenn man dringend auf etwas wartet, schleicht sie nur so daher und wenn man etwas Schönes erlebt, verrinnt sie wie im Fluge. Meist hat man zu wenig davon, manche aber doch zu viel.

Für meine Freundin Elisabeth (Name geändert) vergeht die Zeit viel langsamer als für mich. Sie lebt seit eineinhalb Jahren in einem Seniorenwohnheim. Sie fühlt sich dort sehr wohl und gut aufgehoben. Sie hat Freunde gefunden, die Pfleger und alle anderen lieben sie, denn sie ist ein ausgesprochen liebenswerter Mensch. Es gibt tolle Angebote für jeden Tag. Und dennoch fühlt sie sich einsam. Ihre Tochter ist vor fünf Jahren verstorben und die Nichte und Neffen mit Familien leben weit weg.

Nach dem Tod ihrer Tochter habe ich Elisabeth das erste Mal mit der Kommunion besucht. Der Anfang war natürlich schwierig und traurig. Ich habe teilweise nur bei ihr gesessen und ihr zugehört. Was soll man sagen, wenn einem Menschen, einer Mutter, das Schrecklichste passiert, was man sich vorstellen kann. Und natürlich haben wir gemeinsam gebetet, gesungen und sie hat die Kommunion bekommen und ich habe bemerkt, wie gut das für sie war.

Seitdem versuche ich, sie alle zwei Wochen zu besuchen. Das gelingt nicht immer, der Alltag lässt das häufig nicht zu. Aber meistens schaffe ich es, weil ich weiß, dass sie auf mich wartet und auch ich freue mich auf die Besuche bei ihr.

Inzwischen sind wir Freundinnen geworden und wir möchten einander nicht missen. Wir haben so viel miteinander erlebt, so viel geteilt. Trauer und Freude, Lustiges, Schönes, Empörendes… Wir nehmen am Leben des Anderen teil und das bereichert uns beide.

Natürlich fällt es manchmal schwer, sich die Zeit zu nehmen, wenn tausend To-dos anstehen und Terminlasten drücken. Aber ich weiß, wie wichtig diese zwei Stunden, die wir beisammen sind, auch für mich sind. Es ist ein kurzes Aufatmen, es ist die Bereicherung, das eigene Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, eine andere Generation, kein Familienmitglied. Und es ist die Freude, die ich in ihrem Gesicht lese, wenn ich komme. Ich weiß, sie freut sich die ganze kommende Woche über meinen Besuch und in der darauffolgenden auf den nächsten. Das hat mich zwei Stunden gekostet. Was hätte ich in diesen zwei Stunden gemacht? Emails beantwortet, die Spülmaschine ein- oder ausgeräumt… Nichts davon hätte nachhaltigen Wert gehabt.

Sollte Gemeinde nicht so sein? Bedeutet Gemeinde nicht vor allen Dingen Gemeinschaft? Dass man füreinander da ist, sich gegenseitig unterstützt und hilft, dass keiner alleine ist. Keiner von uns kann die ganze Welt retten, auch nicht alle einsamen Menschen einer Gemeinde. Aber wenn der ein oder andere sich die Zeit nimmt, einen einsamen Menschen zu besuchen, dann ändert sich viel – dann sind alle weniger allein.

Ariane Blank
Foto: StockSnap / cc0-gemeinfrei / Quelle: pixabay.com