St. Bonifatius Wiesbaden

Nächstenliebe

Nächstenliebe ist doch etwas Selbstverständliches

GemeindebriefPhilippe Jaeck

Selbstverständlich ist Nächstenliebe richtig und gut. Und darum ist sie ja auch gewissermaßen moralisch geboten. So denken viele heute und sie liegen damit ja auch richtig. Ein Mensch der Nächstenliebe ist ein guter Mensch. Der Wert der Nächstenliebe ist uns ins Gewissen geschrieben; sie leuchtet uns ein, sie scheint uns tatsächlich selbstverständlich zu sein.

Aber ist das wirklich so? Wir sehen zumindest, dass es ja nicht immer so war. Zur Zeit Jesu galt ein ganz anderes Ideal für den Menschen: Gut und gelungen war das Leben des Menschen, wenn er reich und berühmt geworden war, einflussreich, unabhängig, schön, erfolgreich und natürlich siegreich gegenüber dem Feind: ein Star zu sein, ja bestenfalls ein strahlender Held! Wir erkennen schnell, dass diese Ideale zu allen Zeiten etwas Verlockendes für den Menschen hatten. Und ein Blick in unsere Gegenwart verrät, wie sehr sie gerade heute wieder bestimmend werden. Nächstenliebe ist darin jedenfalls nicht das Bestimmende. Man könnte es auf eine provozierende Formel bringen: Selbstverwirklichung statt Selbstlosigkeit.

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Mit Jesus kommt eine grundsätzliche Umwertung der Werte: Selig die Armen. Selig die Barmherzigen. Selig die Frieden stiften. Selig, die ein reines Herz haben. Selig die Verfolgten.

Der Anspruch zur Nächstenliebe, wie Jesus ihn im Evangelium prägt, ist mehr als nur ein Almosen-Geben, nett sein zu anderen, ein wenig Mitmenschlichkeit oder eine gute Tat. Es geht um eine grundsätzliche Haltung des Menschen. Es geht darum zu erkennen, was vor Gott wirklich zählt.

Gott ist die Liebe. Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen. Von hier aus wird klar, dass – biblisch gesprochen – die Liebe die eigentliche Bestimmung des Menschen ist. Gottes- und Nächstenliebe ist das höchste Gebot Gottes – so sagt es Jesus deutlich. In Jesu Leben wird sichtbar, wer Gott ist: Gottes grenzenlose Liebe zum Menschen wird offenbar im gekreuzigten und auferstandenen Christus. Gott behält nichts zurück; er gibt alles, er gibt sich selbst. Diese Hingabe hat uns Erlösung und ewiges Leben gebracht. Gleichzeitig wird in Christus nicht nur sichtbar, dass Gott die Liebe ist, sondern auch dass die innerste Bestimmung des Menschen die Liebe ist: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für die Freunde hingibt, sagt Jesus.

Die Liebe war von Anfang an das Markenzeichen der Christen. Es ist den Menschen der Antike aufgefallen, dass die Christen nicht nur Menschen aus der eigenen Familie, dem eigenen Clan oder Umfeld halfen, sondern ohne Ansehen der Person für jeden da waren, ja dass sie sich bald organisiert für Menschen in Not einsetzten. Das war wirklich etwas Neues. Und trotz aller allzu menschlichen Wirrungen der Kirchengeschichte war doch die Caritas, die gelebte Nächstenliebe, durch alle Epochen hindurch ein prägendes Kennzeichen der Kirche.

Das ist auch heute so: Unübersehbar ist das Engagement so vieler Gläubigen im Sinne der Nächstenliebe, ob allein oder in Gruppen, ob Laien, Priester oder Ordensleute, ob in Hilfswerken oder Verbänden überall auf der Welt. Das ist nicht selbstverständlich. Alle wissen um den tragenden und bleibenden, lebendigen Ausgangspunkt dieser Liebesbewegung: Jesus Christus.

Der Christ weiß sich zur Heiligkeit berufen; diese bedeutet im Kern die konkret gelebte Gottes- und Nächstenliebe. Von da aus können wir uns immer wieder vergegenwärtigen, was vor Gott zählt: Der Mensch des Evangeliums ist nicht der Held sondern der Heilige.

Pfarrer Klaus Nebel